Aus dem Buch "Lebendige Sprachinseln"

FERSENTAL ( BERSNTOL)-VALLE DEL FÈRSINA -

Fersentaler Gemeinschaft im Trentino

VORWORT

Wenn man das Siedlungsgebiet der Gemeinschaft, deren Sprache das Fersentalerische ist, geografisch genau abgrenzen möchte, stößt man auf einige Schwierigkeiten. Im Italienischen liegen im Wesentlichen drei geografische Bezeichnungen vor:
1. Valle del Fèrsina. Dies ist vielleicht die bekannteste geografische Benennung, auch wenn sie zu weitläufig ist, wenn man bedenkt, dass das Gebiet von den Quellen des Wildbachs Fèrsina (Lago di Erdemolo/Hardöml See auf 2.005 m ü.d.M.) bis dorthin reicht, wo sich sein Wasser in die Etsch ergießt, d.h. in der Landeshauptstadt Trient. Man könnte meinen, dass z.B. auch die Städtchen Pergine und Civezzano zum Valle del Fèrsina gehören, da sie den Wildbach säumen.
2. Valle dei Mòcheni. Hier verbinden sich deutlich zwei Begriffe: Der eine ist rein geografischer Art, »Valle« (Tal), der andere ganz und gar nicht, »Mòcheni«. Es ist in der Geschichte nicht das erste Gebiet, das nach der ansässigen Bevölkerung benannt ist: Denken wir bloß an Deutschland, Sizilien, Lombardei. Die Spezifizierung »dei« (»der« – Genitiv Plural) stellt auch sofort klar, wovon wir sprechen.
3. Alta Valle del Fèrsina. Hier stehen wir vor einer zwar nur selten gebrauchten Bezeichnung, die jedoch in geografischer Hinsicht unantastbar ist, da sie klar das Gebiet des Fèrsina Oberlaufs umreißt, bevor der Wildbach in die ebene Zone des Raumes Pergine eindringt.
Später werden wir auf weitere Benennungen eingehen, die früher in den Karten und Beschreibungen verwendet wurden. Bevor wir uns jedoch vom Thema lösen, seien noch die anderen beiden Bezeichnungen genannt, die für gewöhnlich in geografischer Hinsicht gebraucht werden, doch nicht italienisch sind. Die bekannteste ist sicher die deutsche Form »Fersental«, eine genaue Übersetzung von »Valle del Fèrsina«, neben der jüngeren fersentalerischen Form »Bersntol«.

EINFÜHRUNG

Das Tal grenzt im Süden an das Valsugana, im Westen an den Raum Pergine und Piné, im Norden an die Hochebene von Piné und die ersten Ausläufer der Bergkette des Lagorai, die es auch im Osten abschließen. Es erscheint wie ein Keil, und steigt von der Ebene von Pergine etwa 15 km bergan.
Das linke Ufer ist reich an Wasserläufen, die rasch zur Fèrsina abfallen, was auf das relativ steile, wenn auch stufenförmige Gelände zurückzuführen ist. Dasselbe gilt für die Gegend von Palù, die offener ist, in der sich aber die beträchtliche Höhe bemerkbar macht. Anders sieht der niedrigere Teil der italienischsprachigen Zone am rechten Ufer aus: Hier sind die ebenen Flächen erheblich weiter, die Wasserläufe seltener und weniger stürmisch.

Fersental (Bersntol)-Valle del Férsina: Gesamtblick mit den Bergen Calisio und Cimirlo im Hintergrund

Fersental (Bersntol)-Valle del Férsina: Gesamtblick mit den Bergen Calisio und Cimirlo im Hintergrund

Im untersuchten Raum überwiegt in den unbebauten Zonen deutlich Nadelwald (Fichten und Lärchen), auch wenn in tieferen Lagen Laubbäume anzutreffen sind (Akazien, Kastanien usw.). Der Waldsaum erreicht eine Höhe von etwa 1900 m, wo sich größere Flächen von Wacholder, Latschenkiefer und Rhododendron ausbreiten.
Unter den Wildtieren sind Eichhörnchen, Murmeltiere, Gämsen, Hirsche, Rehe, Hasen zu nennen, unter den Pflanzenarten das Edelweiß, der Türkenbund und das Seifenkraut. Derzeit ist die Fersentaler Gemeinschaft in den Gebieten der Gemeinden Frassilongo/Garait, Fierozzo/Vlarotz und Palù del Fèrsina/Palai en Bersntol angesiedelt.
Die Gemeinde Garait liegt am niedrigsten (621 m), während die Gemeinde Palù/Palai die höchstgelegene (Cima di Sasso Rotto/Schrum, 2394 m) und auch die östlichste des Tales ist. Insgesamt sind diese drei Gemeinden, die das linke Talufer und das obere Ende des rechten Ufers abdecken, nur wenig größer als 51 km2.

In der Abbildung 1 sehen wir die Bevölkerungsentwicklung von 1951 bis heute, nach Gemeinden unterteilt.

Bevölkerungsentwicklung (1951-2001)
Gemeinde 1951 1961 1971 1981 1991 2001
Palù/Palai 340 337 323 287 221 191
Fierozzo/Vlarotz 601 552 447 438 437 441
Frassilongo/Garait 634 623 472 462 380 356

Auffallend ist der Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung, was kein gutes Zeichen für deren Bestand ist.

DIE BESIEDLUNG DES TALES

Vor 1200 wurde das Gebiet des gesamten linken Ufers und des oberen Abschnitts des Fèrsina wahrscheinlich wegen seines Weidelandes, der Wälder und der Jagdmöglichkeiten genutzt.
Es wäre jedoch ein Irrtum, es als Gebiet ohne Privatgüter anzusehen, da die Feudalherren auch diese Möglichkeit der Nutzung nicht unberücksichtigt ließen, weshalb das Eigentum gut abgegrenzt wurde. Schon laut den ersten verfügbaren Urkunden gehört der Berg von Frassilongo/Garait und Roveda/Oachlait zu den Besitzungen des Schlosses Pergine, während der Berg von Fierozzo/Vlarotz als Eigentum des Domkapitels von Trient und der von Palù/Palai unter den Gütern des Schlosses Caldonazzo aufscheint. Die Grenzen sind – durch Bergkämme oder bedeutendere Wildbäche – geografisch deutlich gezogen.
Jeder Eigentümer verwaltete das Gebiet nach eigenem Gutdünken, sicher jedoch in Anlehnung an die lokalen Gebräuche der Epoche. Eine Zeit lang wurden große Gebiete – wenn nicht sogar der ganze Berg– nahe gelegenen Gemeinschaften oder solchen, die besonderen Bedarf an Sommerweiden oder Holz hatten, verpachtet. Das 13. Jh. brachte jedoch eine Wende. Vor allem von Norden her zeigte sich zunehmend eine Nachfrage nach bebaubarem Land, der einzigen Überlebensmöglichkeit einer steigenden Zahl von Familien, was auf die Bevölkerungszunahme und auf die Innovationen der Landwirtschaft um das Jahr 1000 zurückzuführen war.
Weite Zonen Tirols und des Trentino, die bis dahin von geringem Interesse waren, wurden plötzlich für die Ansiedlung einer Reihe bedürftiger Familien interessant, die nach Zonen mit günstigeren Lebensbedingungen suchten.
Für unser Gebiet handelte es sich nicht um Wellen von direkt aus Bayern stammenden Siedlern, sondern um die Niederlassung von Familien aus verschiedenen Gegenden, wie Pinè, den Hochebenen von Folgaria und Lavarone, Tirol. All das war in einem Feudalsystem möglich, in dem der Bauer fast nie direkt Eigentümer des von ihm bearbeiteten Landes, aber in jedem Fall »frei« war: Die Bindung zum Landeigentümer war wirtschaftlicher und nicht persönlicher Art, wenn der Bauer in eine andere Gegend ziehen wollte, so stand ihm dies frei.
Die Familien, die sich in Frassilongo/Garait, Roveda/Oachlait, Fierozzo/Vlarotz oder Palù/Palai niederließen, hatten zumeist nur zwei Elemente gemeinsam: das Erfordernis oder den Wunsch nach neuem bebaubarem Land und die »teutonische« Sprache, d.h. Deutsch.
Die Feudalherren, die sich das Gebiet teilten, begünstigten die Niederlassung ständiger Siedler, da dies auch eine Erhöhung ihrer Einnahmen bedeutete. Jede Familie, die ein Stück Land in Pacht erhielt, zahlte einen Jahreszins und trug auch– durch ein komplexes System von Steuern, Leistungen und Gebühren – in anderer Form zum Anwachsen des Eigentums der Schlösser Caldonazzo und Pergine bei (das letztere hatte in der Zwischenzeit vom Domkapitel von Trient das Eigentum des Berges von Fierozzo/Vlarotz übernommen).
Die Gesamtheit des Bodens und der Gebäude, mit denen ein Bauer durch den Schlossherrn »belehnt« wurde, war der »Hof«, der Gründe verschiedener Art umfasste: Sie lagen in Frassilongo/Garait auf einer Höhe zwischen 700 und 1100 m, in Palù/Palai zwischen 1100 und 1500 m. Die Belehnung dauerte fast immer 19 Jahre, konnte aber automatisch auch Generationen hindurch erneuert werden.
Wie erwähnt, kam es in der Anfangsphase nicht selten vor, dass die Herren besondere Zugeständnisse machten, um die Arbeit in Gang zu bringen – man denke bloß an die Notwendigkeit, Ställe und Wohnungen zu errichten, zu roden, das Land urbar zu machen, Mauern zur Abgrenzung der Felder zu errichten usw. Dennoch zogen einige Familien fort, die vor allem in den frühen Jahrhunderten durch andere ersetzt wurden, während sich mit der Zeit die Situation festigte. Der Großteil der im 16.–17. Jh. ansässigen Familien entspricht der heute noch hier verwurzelten Bevölkerung.

DER BERGHOF

Der Bauer lebte im Wesentlichen von der Haltung von Kühen, einigen Schafen, ein paar Ziegen, Hühnern und natürlich von den Produkten, die der Boden abwarf. Von Getreide, Kohl, Ackerbohnen und den Erzeugnissen aus dem Gemüsegarten nährte sich die Familie das ganze Jahr hindurch, vor allem aber im langen Winter. Manche Produkte wurden gegen andere aus dem Talgrund ausgetauscht, so konnte man bisweilen Weinfässer lagern.
Um das verfügbare Land bestmöglich zu nutzen, errichtete man das Wohngebäude und den Stall in unproduktiven Zonen, möglichst nah am Berg, um bequemer von der Bergseite die großen, für die Kühe erforderlichen Heumengen einholen und im darunter liegenden Raum einen Keller für die Konservierung von Kraut einrichten zu können. Das war aber nicht alles. Im Sommer führten die Bauern das Vieh auf die Hochweiden, wo sie in Hofnähe kleine Unterstände errichteten: So entstand die hit, die man bisweilen ein wenig vergrößerte, um eine Feuerstelle für den Hirten zu schaffen. Jeder hof konnte sich somit auch im Sommer selbst versorgen, ohne dass die Notwendigkeit zu gemeinsamen Almhütten bestand.
Das Ausmaß des vom Schlossherrn vergebenen hofs war anfänglich großzügig, das Gut reichte jedenfalls für die Erhaltung einer Familie. Was geschah aber im Laufe der Generationen? Wer sollte den Hof erben, oder besser: Wer sollte den ganzen Hof erben?
Nie so sehr wie in diesem Fall hat das bürgerliche Recht die Geschichte, die Gemeinschaft direkt berührt und sie Jahrhunderte hindurch in all ihren Aspekten beeinflusst. Die Gemeinschaften haben von Beginn an ihr Gewohnheitsrecht und ihre Regeln, die in unserer Region vor allem im 16. Jh. kodifiziert, amtlich anerkannt und angewandt wurden. Dies geschah vor allem in den größeren Gemeinschaften, denen später die kleineren folgten. Für unsere Gemeinden können wir dies nur vermuten, da Originalurkunden fehlen. Wir kommen der Realität jedoch sicher sehr nahe, wenn wir annehmen, dass sich mehr oder weniger auch die kleinen Gemeinden des Tals an die Satzung von Pergine hielten, die sich in gewisser Weise an die von Trient anlehnte.

Fersental (Bersntol)-Valle del Férsina: Winter

Fersental (Bersntol)-Valle del Férsina: Winter

Fest steht jedenfalls, dass die Berghöfe unter allen Söhnen zu gleichen Teilen aufgegliedert werden konnten, während den Frauen bloß eine einfache Anerkennung zustand, die wenig mehr als symbolisch war: die Mitgift.
Nach Abschluss der Besiedlung der Gegend und nach einigen Perioden, die den Anstieg des Wohlstands nicht gerade förderten (Kriegswirren, Pest usw.), begann die Gemeinschaft zahlenmäßig zu wachsen. Nach weitgehender Nutzung aller Wirtschaftsnischen, die das Gebiet bot (durch zusätzliche Rodungen, Fruchtbarmachungen, Trockenlegungen usw.), blieb nichts weiter als die Anwendung verschiedener Hilfsmittel, um zumindest jenen das Überleben zu sichern, die die Führung des Hofs übernommen hatten. So gelang es, durch vermittelte Ehen, einen hohen Prozentsatz an Unverheirateten, eine sorgsame Politik der Bodenverteilung und des Verkaufs usw., die Zersplitterung des Eigentums aufzuhalten, bis der Anteil zum Überleben nicht mehr vorhanden war.
Diese Lösungsversuche genügten jedoch nicht, und schon seit dem 17. Jh. machten sich Erscheinungen bemerkbar, die die Fersentaler Gemeinschaft bis zum heutigen Tag prägten: die Auswanderung und der hondl.

DIE AUSWANDERUNG

In den letzten vierhundert Jahren zogen viele Bewohner des Tales für immer von der Gemeinschaft, in der sie geboren und aufgewachsen waren, fort, um andernorts die Bedingungen für eine würdige Existenz zu suchen. Je nach der Zeit und den Erfordernissen wechselte die Zahl, wie auch der Bestimmungsort der Auswanderer.
Einige nahe Zielgebiete – wie das Valsugana, der Raum von Civezzano und von Povo bei Trient – wurden wieder zu wahren Fersentaler Siedlungen, die Dutzende von Familien umfassten. Auch wenn noch Studien in dieser Richtung zu betreiben sind, reicht in vielen Fällen der Familienname zur Bestimmung des Herkunftstales aus.
Die Auswanderung nahm ab Ende des 19. Jh. große Ausmaße an: In den Registern sind Dutzende und Aberdutzende von Personen verzeichnet, die offiziell ihre Heimat verließen, um in ein anderes europäisches Land zu ziehen, in Wahrheit aber begaben sie sich in die Bergwerke von Colorado und Utah. Die Geschichte einer Gemeinschaft fällt in diesem Fall mit der Geschichte unserer Region, doch auch anderer Regionen, wie zum Beispiel Venetiens, zusammen. Manche Jugendliche zogen für einige Jahre fort, um dann zurückzukehren , andere wussten bereits, dass es keine Heimkehr mehr geben würde, einige versuchten, die Familie in die neue Heimat nachkommen zu lassen. Viele verließen das Vaterland und ihre Lieben, um einem Traum nachzujagen, der (fast) nie wahr wurde.
Ab Ende der Dreißigerjahre des 20. Jhds war die Auswanderung auch an politische Faktoren des Faschismus und Nationalsozialismus gebunden. Die Möglichkeit der Option für das deutsche Reich im Jahr 1939, die summarisch von Südtirol auf die deutschen Gemeinschaften Norditaliens ausgedehnt wurde, bot die Gelegenheit einer Massenabwanderung, die vor allem die Gemeinschaft von Palù/Palai nutzte, deren überwiegende Mehrheit sich eine wirtschaftliche und soziale Besserstellung erhoffte. Doch bereits die sechs Monate Aufenthalt im Flüchtlingslager von Hallein in Österreich brachten viele Hoffnungen zum Erlöschen. Die Ansiedlung auf böhmischen Landgütern – im Anschluss an eine gezielte Enteignung der Ländereien durch den deutschen Generalstab – war ein magerer Trost. Was folgte, war ein Harren der Dinge, um möglichst bald auf den kargen, doch einladenden Boden von Palù/Palai zurückzukehren.
Der Ort lebte wieder auf, doch die tragischen Ereignisse– die die Schwächeren unter der Bevölkerung, wie Frauen und Kinder, am härtesten trafen – hinterließen Spuren, die noch heute bemerkbar sind.
In der Nachkriegszeit setzte sofort wieder eine Auswanderungswelle ein, die sich auch in diesem Fall auf das Ausland richtete: Schweiz, Deutschland, Österreich, doch erneut auch Amerika und sogar Australien.
Die Auswanderung, die als notwendige Zeiterscheinung begonnen hatte, führte in der zweiten Hälfte des 20. Jh. zu einem wahren Aderlass der beiden Orte Frassilongo/Garait und Palù/Palai, während es Fierozzo/Vlarotz am Ende des Jahrhunderts gelang, die Verluste und die Abwanderung aufzuhalten und sogar Familien oder Jugendliche, die zu nächst in den Talgrund gezogen waren, wieder zurückzuholen. Komplexer ist die Situation des Ortes Roveda/Oachlait, der bis heute eine lebhafte Bevölkerungsentwicklung und eine besondere gesellschaftliche Beständigkeit zeigt.

BERGWERKE UND KNAPPEN

Der Ursprung des Bergbaus im Tal ist sehr alt. Vorgeschichtliche Schmelzöfen wurden an verschiedenen Stellen des Tales entdeckt, doch im gesamten Alpenraum ist bisher noch keine so bedeutende Fundstätte aufgetaucht wie die des Redebus Passes zwischen Palù del Fèrsina/Palai und der Hochebene von Piné auf 1450 m Höhe: eine Reihe von Öfen und die dazugehörigen Halden mit Hunderten Tonnen von Schlacken aus der Zeit zwischen 1.300–1.100 v. Chr.
Die geologische Formation des Tales förderte das Auftauchen tieferer Gebirgsschichten, wobei sich in das Grundgestein Adern wertvoller Metalle einschoben, die der Mensch abzubauen begann. Unter diesen Mineralien spielte zweifellos Kupfer die größte Rolle, gefolgt von Silber, Blei und Eisen.
Wir wissen nicht mit Sicherheit, an welchen Stellen Kupferkies für die Schmelzöfen des Redebus Passes gewonnen wurde, doch ab 1400 entstanden die Bergwerke so gut wie überall im Tal und lockten Unternehmen und Bergknappen aus anderen Bergbaugebieten wie Schwaz im Inntal oder aus Böhmen.
Die Arbeit in den Bergwerken war äußerst mühsam und erforderte Fachkenntnisse: Dies führte allmählich zu einer von der Außenwelt unabhängigen Organisation. Die Bergleute hatten einen eigenen Rechtsstatus, eigene Innungen, einen eigenen Bergrichter, einen Lebensstil, der nicht an die Jahreszeiten und den Boden usw. gebunden war. Als die Knappen in diesem Gebiet eintrafen, war dieses aber bereits bewohnt, weshalb sie mit den an sässigen lokalen Gemeinschaften ein Auskommen finden mussten. Die letzteren waren nicht immer glücklich über die Errichtung von Baustellen, doch mussten sie sich anpassen: Die Landesherren (Fürstbischöfe und Grafen Tirols) hatten einiges am Bergbau zu verdienen, weshalb sie dem Bergrichter unter anderem auch die Aufsicht über den Waldzugestanden, der für die Infrastrukturen in den Stollen erforderlich war, vor allem aber Brennstoff für die Schmelzöfen lieferte, die immer mehr Material verschlangen.
Auch wenn die Bergbautätigkeit alles in allem nur kurze Zeit anhielt – bereits nach 1520 erfuhr sie einen starken Rückgang – zog sie sich doch mit wechselndem Verlauf über Jahrhunderte hin, wobei neue Grabungen und der Abbau anderer Mineralien (wie Vitriol für die Glasindustrie) mit Krisenzeiten wechselten. Erst in den Sechzigerjahren vergangenen Jahrhunderts kam die Ausbeutung endgültig zum Stillstand.
Das Kapitel der Bergwerke hat zahlreiche greifbare Zeugnisse im Gebiet, aber auch Spuren im Gedankengut der Bevölkerung hinterlassen. Das Leben und Treiben, das in manchen Perioden das Tal kennzeichnete, ist nicht nur in Sagen und Märchen erhalten geblieben (die um Knappen, Bergwerke, das Pèrgmandl und Ströme von Gold kreisen), sondern auch in der kollektiven Vorstellungswelt: Deutsch sprechende Bergleute waren aus weiter Ferne gekommen, um dem Fersentaler Boden unermessliche Reichtümer zu entreißen.

DIE FERSENTALER SPRACHE

Die Siedler des 13. Jh. wurden in den Urkunden lange unter der Bezeichnung »teutonisch« oder »alemannisch« geführt. Wir können deshalb annehmen, dass ihre Sprache im Wesentlichen eine dialektale Form des einstigen Deutsch war. Wegen der unterschiedlichen Herkunft der einzelnen Familien handelte es sich wahrscheinlich schon damals nicht um eine einheitliche Sprache, doch steht fest, dass sich die Bewohner der einzelnen Orte zumindest untereinander verstanden.
In den darauf folgenden Jahrhunderten erfolgte nur ein geringer Austausch mit Familien anderer Herkunft und demnach anderer Sprache, weshalb sich Jahrhunderte hindurch keine Elemente ergaben, die eine Änderung der Sprachgewohnheiten der Fersentaler Gemeinschaft bewirkt hätten.
Im 17. Jh. kamen noch weitere Faktoren hinzu, die vermutlich zur Festigung und Entwicklung der bodenständigen Sprache beitrugen.
Wenn jemand auswandert – sofern es sich nicht um eine Massenauswanderung handelt -, bringt er wohl Elemente seines kulturellen Hintergrundes in das neue Gebiet mit, doch schrumpfen diese stark unter den folgenden Generationen. So wurde die Fersentaler Sprache anderswo nicht zu neuem Leben erweckt. Grundsätzlich anders verhält es sich mit der saisonbedingten Auswanderung: In der Fersentaler Geschichte gab es Hunderte von krumer (Krämer), die durch ihren hondl (Handel) mit anderen Volksgruppen ähnlicher Sprache (Deutsch) in Kontakt traten und den tatsächlichen Nutzen der Kommunikationsmöglichkeit erkannten. Dieses Merkmal, das die Fersentaler Gemeinschaft Jahrhunderte hindurch auszeichnete, wurde zu einem kulturellen Aspekt, der nicht nur in praktischer Hinsicht unumgänglich, sondern auch aus Prestigegründen bedeutungsvoll war.
Jahrhunderte hindurch war dann das Fersentalerische nicht mehr die einzige Sprache des Tales, blieb aber die Muttersprache. Die Kontakte zu den nahegelegenen Orten machten es oft erforderlich, auch die Sprache der Nachbarn, demnach den Trentiner Dialekt, zu erlernen.
Was aber sicher eine Veränderung des Lebensstiles mit sich brachte, waren die Geschehnisse ab der zweiten Hälfte des 19. Jh., als Probleme nationalistischer Art auftraten. Ab der Zeit wurden die Kuratien im Tal deutschsprachigen Geistlichen zugewiesen, die gleichzeitig fast immer auch die Lehrer waren. Die Situation blieb im Wesentlichen unverändert, bis unsere Region im Anschluss an den Ersten Weltkrieg an den italienischen Staat überging und die deutsche Schule unverzüglich durch die italienische ersetzt wurde.

Fersental (Bersntol)-Valle del Férsina: Blick auf Palù-Palai

Fersental (Bersntol)-Valle del Férsina: Blick auf Palù-Palai

Beide Schulen waren nicht das Modell, das den Merkmalen unserer Gemeinschaft entsprach, doch konnte kein Schulsystem gefunden werden, das unsere sprachliche Besonderheit berücksichtigte (was auch heute noch schwer ist).
Die tiefgreifenden Veränderungen der Wirtschaft und die Massenmedien führten zu einem enormen Prestigeverlust der Sprache, die Jahrhunderte hindurch das Erbe unserer Gemeinschaft war. So ergibt sich lediglich eine Anpassung an ein mehr oder weniger unüberwindbares System. Ausgehend von der Ortschaft Frassilongo/Garait haben immer mehr Familien die Muttersprache fallengelassen und die der Nachbarn übernommen, was sich nun vor allem auch auf Fierozzo/Vlarotz überträgt. Roveda/Oachlait und Palù/Palai sind die beiden Orte, in denen das Fersentalerische fast noch von der gesamten Bevölkerung, einschließlich der Kinder, gesprochen wird.
Eine deutliche Wende brachte ein Landesgesetz von 1987, mit dem das Kulturinstitut für das Fersental und Lusérn gegründet wurde: Die Autonome Provinz Trient, die Autonome Region Trentino Südtirol und die Lokalinstitutionen begannen, sich für die Probleme des Schutzes und der Aufwertung der Fersentaler Sprachminderheit einzusetzen und erkannten die Notwendigkeit spezieller Maßnahmen. In den letzten fünfzehn Jahren erfolgte eine Reihe von Debatten, Legislativmaßnahmen und Subventionen für die kulturelle Tätigkeit, wie unsere Gemeinschaft sie im Laufe ihrer Geschichte nie erlebt hatte. Nun spielt die Fersentaler Sprache im Kindergarten eine gewisse Rolle, während sie nur mit Mühe in die Volksschule, und noch weniger in die Mittelschule, einzudringen vermag. War die Lehre der Geschichte nicht deutlich genug, oder lernt der Mensch nie?

DIE GEGENWART

Es ist schwierig, heute das Porträt eines Ortes oder einer Gemeinschaft zu zeichnen. Davon ausgehend stellen wir zwei Überlegungen an:
1. Die Fersentaler Gemeinschaft, die sich in den letzten Jahren sehr stark entwickelt hat, scheint nun das Tempo zu verlangsamen. Die traditionelle Wirtschaft macht eine starke Krise durch und wird fast überall schon durch Pendeln, öffentlichen Dienst, Handlangerarbeiten ersetzt. Nur wenigen Menschen – von denen viele ausgewandert sind – ist es gelungen, ihre soziale Stellung zu verbessern und eine Position in der modernen Gesellschaft zu erobern. Im Anschluss an diese sozioökonomischen Änderungen steht auch die Fersentaler Sprache unter starkem Druck, sowohl wegen der Nähe zur alten bäuerlichen Welt, als auch wegen des sogenannten Globalisierungseffekts.
2. Die Umwelt und die Landschaft haben Jahrhunderte hindurch Anpassungen erlebt, die zwar stark waren, sich aber über sehr lange Perioden erstreckten. Nun ist ein umsichtiges Vorgehen geboten, da dank der Technologie die Maßnahmen kurzfristig erfolgen können und einschneidend sind. Außerdem besteht – offenkundig nicht nur für unsere Berggemeinschaft – das Problem der Aufforstung großer bereits aufgelassener Flächen Ackerlandes. Neben einem zunehmenden Verständnis für diese Situation und des Kultur und Sprachfaktors auf Seiten der neuen Generationen zeigt sich ein Streben nach musealen Einrichtungen. Zweifellos läuft die Marktwirtschaft nur langsam an, da viele Werte wie Loyalität, Verbundenheit mit den Traditionen, Opferbereitschaft, Familie usw. auch im Erbgut der jungen Generationen noch stark präsent sind .

DAS BRAUCHTUM

Mehrere Autoren haben sich mit dem Fersentaler Brauchtum befasst. In der Vergangenheit wurde sicher auch einiges erfunden, es ist jedenfalls schwer, ein vollständiges wissenschaftliches Bild zu zeichnen. Leider sind viele Elemente verloren gegangen, weshalb wir Grundelemente für die Gebräuche, die Generationen hindurch weitergegeben wurden, finden müssen – falls es sie gibt. Viele Einzelheiten sind nur noch wenigen Personen bekannt, wobei die Erinnerung auch nicht immer hundertprozentig genau ist.
Einen starken Einfluss hat auch die Religion ausgeübt: Viele Sitten und Rituale sind in sie eingeflossen und denselben Weg gegangen. Die wichtigsten Gebräuche jedoch – die vor allem in Palù/Palai beibehalten wurden – haben sich zu einer Art Wahrzeichen der Gemeinschaft entwickelt. Sie sind eng mit dem Wesen der Bevölkerung verbunden und demnach Grundlage für ihre Existenz und Identifizierung.
Die Stèla, das Sternsingen, ist für Fierozzo/Vlarotz und Palù/Palai charakteristisch. Die zum Militär Tauglichen haben die Aufgabe, den Stern zu schmücken und ihn in den Nächten von Sylvester, Neujahr und dem Dreikönigstag von Haus zu Haus zu tragen. Ihnen folgt eine Gruppe von Sängern, Männer aller Altersgruppen, die religiöse Lieder aus dem traditionellen Repertoire des Ortes anstimmen. Ein Begleiter sammelt die Geldspenden ein, mit denen Messen für alle Verstorbenen des Ortes gelesen oder Erfordernisse der Kirche gedeckt werden. Die Familien erwarten mit Ungeduld das Vorbeiziehen der Gruppe mit dem Stern und gehen bei der Gelegenheit im Geiste die wichtigsten Ereignisse des vergangenen Jahres durch.
Der Fasching von Palù/Palai ist ein komplexes Ritual. Zwei Männer verkörpern den bètscho und die bètscha, während ein Dritter der oiartroger, auch teit genannt, ist. Die drei Gestalten werden von den Militärtauglichen des Ortes gewählt und können von Jahr zu Jahr von jemand anderem dargestellt werden. Ihre Aufgabe beginnt bereits am Faschingsmontag, wenn sie die Mädchen besuchen gehen, Informationen über laufende Liebschaften einholen und nach Torten verlangen, die für den nächsten Tag dienen. Am Faschingsdienstag in der Früh zieht der bètscho ein Hemdkleid aus grobem Leinen an, das in der Taille von einem Gürtel mit Glocke festgehalten wird, setzt sich einen hohen, zweispitzigen Ziegenfell Hut mit Bändern auf, schlüpft in ein Paar dunkler Hosen und in feste Arbeitsschuhe mit Gamaschen. Die Ausstattung wird durch einen Stroh- oder Heuhöcker unter dem Hemdkleid und einen groben Stock vervollständigt, der oben eine Vertiefung für die dunkle Farbe aufweist, mit der Gesicht und Hände bemalt werden. Die bètscha trägt eine Frauentracht, einen Männerhut mit einem Fichtenzweig auf dem Kopf und hat ebenfalls Hände und Gesicht schwarz bemalt. Sie führt einen kleinen Besen mit sich, mit dem sie während des ganzen Weges auf den Buckel des bètscho ein  schlägt. Der oiartroger bewegt sich in elegantem dunklen Männergewand mit Faschingsverzierungen, hält einen bunten Stock in der Hand und trägt am Rücken eine kraks, Kraxe, mit Sägemehl, um die Eiergaben aufzunehmen.
Beim Ausgang jedes Berghofs schütten die beiden bètsche Wohlstand aus und erbitten für die Bewohner des Hauses eine gute Ernte, dann – nach Besuch sämtlicher Höfe eines Weilers – spielen sie in einem Gasthaus abwechselnd die Szene ihres Todes. Der »am Leben gebliebene« Gefährte liest das Testament vor – eine ulkige Überarbeitung der Tratschgeschichten über die Liebespaare, von denen sie am Tag zuvor Kenntnis erhalten hatten. Dem »Wiederaufleben« des bètscho folgt ein Tanz und der Tod der bètscha mit Rollenumkehr. Vor dem Übergang zur nächsten Hofgruppe werden an einer vorher vereinbarten Stelle die Torten verteilt und von einem höher gelegenen Punkt Pfannen in die Wiesen geworfen. Wenn bei Einbruch der Dämmerung, nach Besuch aller Höfe der Strecke, das letzte Testament verlesen und die letzte Torte verteilt wurde, geht der Fasching zu Ende: mit der Verbrennung des Höckers des Alten und der Testamente in einem kleinen Feuer, während die Kinder ein großes Feuer, vòschn, entzünden, was von ohrenbetäubendem Schellengeläute begleitet wird.
Die Stèla-und Karnevalsstrecken sind traditionsgemäß immer dieselben; sie werden nur leicht geändert, wenn neue Häuser in der Nähe des Pfades entstehen.

KURZBIBLIOGRAFIE

Atti del convegno La Valle del Férsina e le isole linguistiche di origine tedesca nel Trentino, S. Michele all’Adige (TN), Museo degli Usie Costumi della Gente Trentina, 1978
A. Gorfer, F. Faganello, La Valle dei Mòcheni, Calliano (TN), Manfrini, 1970
S. Piatti, Palù Palae frammenti di storia, Palù/Palae del Fèrsina (TN), Comune, Istituto culturale mòcheno cimbro, 1996.
R. Morelli, Identità musicale della Valle dei Mòcheni, S. Michele all’Adige (TN), Museo degli Usi e Costumi della Gente Trentina, Palù del Fèrsina (TN), Istituto culturale mòcheno cimbro, 1996.

 

Fersental (Bersntol)-Valle del Férsina: Mädchen in Bersntoler Tracht

Fersental (Bersntol)-Valle del Férsina: Mädchen in Bersntoler Tracht